Manfred Spitzer über die Krankheit Einsamkeit
Ulm – Ist Einsamkeit eine Krankheit? Ein Leiden, das ansteckend ist und sogar tödlich verlaufen kann? Der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer will genau das belegen.
In seinem neuen Buch «Einsamkeit, die unerkannte Krankheit» beschreibt
Spitzer, welchen gravierenden Einfluss das Phänomen seiner Ansicht nach auf Körper und Seele der Betroffenen haben kann. Seine These: Wer einsam ist, erkrankt häufiger als andere Menschen beispielsweise an Krebs, einem Herzinfarkt, Schlaganfall, an Depressionen oder Demenz. Zudem breite sich Einsamkeit aus wie eine Epidemie – man könne bereits jetzt von einem Megatrend sprechen.
Doch schon die Frage, ab wann ein Mensch eigentlich einsam ist, ist gar nicht so leicht zu beantworten – denn grundsätzlich ist das auch eine subjektive Einschätzung: Man fühlt sich einsam. «Mancher lebt zwar allein (also in einem Singlehaushalt), ist aber dauernd mit Freunden zusammen, wohingegen andere zum Beispiel als Paar im fortwährenden Rosenkrieg zusammenleben und nur selten mit anderen Kontakt haben», schreibt Spitzer.
Auch
Maike Luhmann, Professorin für Psychologische Methodenlehre an der Ruhr-Universität Bochum, sagt: «Es gibt keine offizielle Diagnose für Einsamkeit, und daher auch keinen «Wert», ab dem jemand einsam ist.» Man messe das Phänomen, indem man Menschen entweder direkt zu dem befrage oder indirekt zu ihrer sozialen Verbundenheit. «An den Antworten kann man dann einschätzen, wie hoch der Anteil derjenigen ist, die sich manchmal, oft oder immer einsam fühlen.»
Es gebe zwei Phasen im Leben, in denen der Mensch besonders häufig von Einsamkeit betroffen sei, schreibt Spitzer. Zum einen das Alter. Der Stellenwert von Ehe und Familie habe abgenommen, zudem gebe es schlicht immer mehr ältere Menschen, die im Schnitt immer älter würden. Aber auch jüngere Menschen seien betroffen – das liege an zwei weiteren großen Trends der Gesellschaft: Der Urbanisierung und der zunehmenden Nutzung von (sozialen) Medien. «Die Digitalisierung bringt Menschen nämlich nicht, wie oft behauptet wird, zusammen, sondern bewirkt eine Zunahme von Unzufriedenheit, Depression und Einsamkeit», schreibt Spitzer, der seine Thesen mit vielen Studien untermauert – sein Literaturverzeichnis umfasst knapp 40 Seiten.
Auch das Mitgefühl nimmt laut Spitzer ab: Eine Metaanalyse über drei Jahrzehnte hinweg mit Daten von insgesamt 13 737 Studenten habe einen deutlichen Rückgang der Empathie und der Fähigkeit zur Einnahme der Perspektive anderer ergeben. Die Menschen kümmerten sich weniger umeinander und legten nicht mehr so viel Wert auf Gemeinschaft wie früher. Die Folge: Einsamkeit nimmt zu. Wer sich jedoch dauerhaft einsam fühlt, bei dem könne dies häufiger zu chronischen Krankheiten führen, sagt Spitzer. Durch Einsamkeit steige die Wahrscheinlichkeit etwa von Schlafstörungen, Depression und Infektionskrankheiten. Auch Krebs und psychische Krankheiten könnten begünstigt werden. Einsamkeit als «Todesursache Nummer eins», wie ein Kapitel heißt?
So weit würde Luhmann dagegen nicht gehen. Es gelte aber als belegt, dass Einsamkeit zu gravierenden psychischen und körperlichen gesundheitlichen Problemen führen könne, sagt sie. «Chronisch einsame Menschen werden eher depressiv, entwickeln eher Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und sterben sogar früher im Vergleich zu nicht-einsamen Menschen.» Luhmann schätzt, dass 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung mindestens manchmal betroffen ist. Ob die Zahl steigt, lasse sich aber nicht seriös belegen, da es aus früheren Jahren keine belastbaren Daten gebe. «Wir können aber sagen, dass Einsamkeit ein Phänomen ist, dass uns schon seit Jahrtausenden begleitet.»
Aber warum sind zwischenmenschliche Beziehungen überhaupt so wichtig? «Wir Menschen haben zwei Grundprobleme: Einsamkeit und Unsicherheit», sagt der Berliner Psychotherapeut
Wolfgang Krüger. «Deshalb sind wir – um unser Selbstbewusstsein aufrechtzuerhalten – auf enge Beziehungen angewiesen.» Freundschaften täten den Menschen gut, weil sie etwa Verlässlichkeit, Sicherheit, Geborgenheit und Verstehen bedeuteten. 100 Freunde bei Facebook ersetzten Freunde im wahren Leben übrigens nicht, sagt Krüger, der auch ein Buch über Freundschaft geschrieben hat. «Das kann man vergessen.» Per Mail oder Chatnachricht in den sozialen Medien erhalte man nur 10 Prozent der Infos, die man brauche, um andere Menschen wirklich zu verstehen. «Wir müssen die Aura des anderen spüren, ihn sehen, riechen, hören.»
Aber was kann man gegen Einsamkeit tun? Eine Anleitung für soziale Integration bekommt man auch von Manfred Spitzer nicht. Ein paar positive Beispiele nennt er aber: einander helfen, musizieren, singen, tanzen, Zeit in der Natur verbringen. «Alle Handlungen, die uns einander näherbringen, wirken gegen Einsamkeit», schreibt der Hirnforscher. «Jeder Einzelne kann sich mehr um andere kümmern, und unsere Gesellschaft kann dem mehr Raum geben und für eine «artgerechtere» – gemeinschaftsorientierte und damit menschlichere – Umgebung sorgen.»
Aus Sicht von Luhmann wäre es notwendig, die Rahmenbedingungen zu verbessern, um Betroffenen die Teilnahme am täglichen sozialen Leben zu erleichtern. «Auch die gezielte Förderung von Initiativen, die sich gezielt an einsame Menschen wenden, kann hilfreich sein», sagt die Psychologin. «Und schließlich benötigen wir auch einen Ausbau der psychotherapeutischen Versorgung, denn Menschen, die schon lange chronisch einsam sind, kommen da häufig nicht mehr ohne professionelle Unterstützung raus.»
Fotocredits: Julian Stratenschulte
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