Wenn Eltern dauernd mit ihren Kindern chatten
Berlin – Hier ein Selfie von der Klassenfahrt, dort ein schneller Text aus der Schulpause: Dank Nachrichten-Apps oder Chatprogrammen können Eltern und Kinder dauernd Kontakt halten. Ganz schön praktisch. Aber ist das immer gut? Jugendforscher Prof. Klaus Hurrelmann hat Antworten:
Hat sich das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern durch moderne Kommunikationsmöglichkeiten geändert?
Prof. Klaus Hurrelmann: Ja, auf jeden Fall. Das Verhältnis hat sich verdichtet – ein Trend, den wir seit etwa 15 Jahren beobachten. Kinder und Eltern sind sich sehr nah. Auch Jugendliche über 25 Jahre schätzen ihre Eltern noch als allerwichtigste Bezugspersonen. An ihnen richtet man sein Leben aus, Mutter und Vater sind Berater in allen Lebensfragen, von der Bildung über die Berufswahl bis zur Partnerwahl. In Kinder- und Jugendstudien stellen wir einen engen und einvernehmlichen Kontakt zwischen Kindern oder Jugendlichen und den Eltern fest. Die modernen Kommunikationsmedien haben diesen Trend verstärkt. Sie ermöglichen es, von morgens bis abends, an jedem Ort und bei jeder sich bietenden Gelegenheit miteinander in Verbindung zu treten.
Ist so viel Kontakt gut?
Hurrelmann: Das kann man unheimlich schwer bewerten. Wenn ein Jugendlicher vor zwanzig Jahren für ein Jahr ins Ausland ging, war es eher üblich, dass er alle vier Wochen einen Brief an die Eltern schrieb und insgesamt zweimal anrief. Heute verliert man sich nicht aus den Augen und steht in dauerndem Austausch, etwa über Videotelefonie. Das ist natürlich für beide Seiten angenehm. Aber: Dahinter steht auch das Gefühl der Eltern, dem Kind könne etwas Unangenehmes zustoßen. Hier liegt das Problem. Der heute so typische enge Kontakt ist unvermeidlich immer auch eine enge Kontrolle. Eltern nehmen ihren Kindern dadurch aber auch die Möglichkeit, ganz neue Beziehungen aufzubauen und sich in ganz neuen Situationen zu bewähren.
Was bedeutet das für Kinder?
Hurrelmann: Wenn die Eltern ständig auf Sendung sind, können die Kinder nichts Heimliches mehr machen, keine Kontakte knüpfen und Räume erschließen, die Aufregung und Abenteuer mit sich bringen. Das brauchen sie aber für ihre Entwicklung. Und sie benötigen Rückzugsräume und Herausforderungen, von denen die Eltern nichts mitbekommen. Paradox wie es klingt, sind es heute die neuen Kommunikationsmedien, die Kindern und Jugendlichen auch neue Rückzugsmöglichkeiten bieten. Da sie ihren Eltern bei der Nutzung des Internets meist überlegen sind, können sie hier über Videospiele, Netzwerke und Plattformen Aktivitäten ausüben, von denen ihre Eltern nichts oder nur wenig mitbekommen. Diese Netzwerke sind heute fast die Wiesen und Straßenzüge von damals, wo man auch mal unkontrolliert unterwegs sein konnte. Was vor zwanzig Jahren die reale Outdoor-Activity war, das ist dieser Tage virtuell im Netz angesiedelt.
Wie bewerten sie diese Entwicklung?
Hurrelmann: Die modernen Kommunikationsmedien haben Gutes und Schlechtes. Zum einen nehmen sie den Kindern und Jugendlichen den Raum, ohne Kontrolle und Zutun der Eltern eigene Entscheidungen zu treffen, Krisen durchzustehen und Konflikte auszuhalten. Wenn die Eltern ihre Rolle überziehen, wenn sie zu den berüchtigten «Helikopter-Eltern» werden, die ihr Kind ständig aus der Luft kontrollieren und bei der kleinsten Gefahr prophylaktisch eingreifen, dann verlernt das Kind, Entscheidungen zu treffen, weil es gar nicht weiß, was für Kriterien dafür gelten. Insgesamt ist das, was die Eltern machen, eine Gratwanderung. Das kann wunderbar sein mit der Kommunikation, aber das richtige Maß einzuhalten, ist die große Kunst. Wenn Eltern da zu weit gehen, dann blockieren sie die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder, ohne das zu wollen.
ZUR PERSON: Klaus Hurrelmann ist Jugendforscher und Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin.
Fotocredits: Armin Weigel
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